Auf der anderen Seite des Schreibtisches – Episode XVII

Das rettende Wort

Auf der anderen Seite des Schreibtisches öffnete sich ein Tor in eine andere Welt. Ich stieg hindurch und hier bin ich nun – gefangen in einer Stadt, in der der Irrsinn herrscht.

Im Laufschritt eilte ich durch die Esoterikabteilung des Gruftmarktes. Den grässlich schillernden Mantel hatte ich mir über die Schulter geworfen, die dazugehörige Sonnenbrille hielt ich in der Hand. Wo ich die Lügenkresse finden würde, hatte ich nicht erfahren, hatte sich die Verkäuferin, die mir Mantel und Brille aufgeschwatzt hatte, doch in Luft aufgelöst, als Mülltonis Schrei erklungen war.
Immer näher rückte das anhaltende Gekreisch, das klang, als würde mein Freund große Schmerzen leiden. Da ich nicht wusste, was mich erwarten würde, schnappte ich mir im Laufen ein Plastikfläschchen von einem der umstehenden Regale. Gesegnetes Möhrenwasser. Nicht, dass es auf den Inhalt angekommen wäre, doch fühlte ich mich mit der Flasche in der Hand sehr viel wohler.
Ich rannte um einen Strauß verbrannter Wünschelruten herum, dann sah ich ihn. Mülltoni stand vor einem Pappaufsteller in der Gestalt eines offenen Buches, auf dem CDs verschiedener Musikgruppen lagen. Mein treuer Begleiter war erstarrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, eine CD in einer lieblos gestalteten grauen Hülle in den Henkeln.
»Mülltoni? Geht es dir gut?«, fragte ich, als ich ein wenig außer Atem neben ihm zu stehen kam. Da ich keinerlei Gefahren ausmachen konnte, ließ ich die Plastikflasche sinken. Trotzdem blieb ich auf der Hut. Allerlei seltsame Geschöpfe mochten sich in der Finsternis jenseits der flackernden Neonröhren verbergen.
Mülltoni antwortete nicht. Mit leeren Augen starrte er auf die Hülle der CD, die er umklammert hielt. Neugierig warf ich ebenfalls einen Blick darauf. »Sprayer’s Greatest Hits« stand da in krakeligen, kaum lesbaren Buchstaben. Auf dem Cover waren fünf Mülltonnen in mit langen Nieten besetzten Lederjacken zu sehen. Das Gesicht der zweiten von rechts war mit einem schwarzen Stift unkenntlich gemacht worden.
»Was geht ab mit diesen Dumpfbirnen?«, brüllte Mülltoni ohne Vorwarnung. »Ich habe meine Seele für die Band verkauft, verstehst du, Alter?« Seine Augen flackerten wütend, während er etwas Unverständliches knurrte. Dann war er plötzlich wie ausgewechselt. »Der Meister wird mich von ihnen erlösen«, sagte er mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Ja, nur der Meister kennt die wahre Erlösung.«
Langsam und unheilverkündend drehte er sich nach mir um. »Glaubst du an den Meister, Randalf, mein Alter?« Er seiner Henkel schloss sich um meinen Arm. Mit wachsendem Unbehagen begriff ich, dass Mülltoni – wohl durch den Schock bedingt – offenbar einen Rückfall in die Gehirnwäsche der Domus-Sekte erlitten hatte. Der Lehrer hatte mich davor gewarnt, dass das früher oder später geschehen würde. Glücklicherweise hatte er das Wort verraten, dass meinen Freund aus diesem Wahn reißen würde. Unglücklicherweise – so stellte ich in eben diesem Augenblick fest – hatte ich es vergessen.
»Natürlich«, antwortete ich wenig überzeugend, um Zeit zu schinden. »Der … äh, der Meister … wird uns alle erlösen und so weiter. Ein Hoch auf den Meister.«
Mülltoni musterte mich misstrauisch. Ein gefährlicher Funke glühte in seinen Augen. »Das wird er«, murmelte er dann. »Wir müssen zu ihm.« Achtlos ließ er die CD seiner ehemaligen Band auf den Boden fallen. »Der Meister wird dafür sorgen, dass diese Verräter ihren gerechten Lohn bekommen. Wenn er erst einmal die Weltherrschaft an sich gerissen hat …«
»Äh, ja, sicher, wie du meinst«, erwiderte ich. Irgendwie musste ich dafür sorgen, dass er keinen Schaden anrichtete, bis mir das rettende Wort wieder eingefallen war. »Wir sollten uns sofort auf den Weg zum Meister machen«, schlug ich also vor. »Soll ich dich zu ihm bringen?«
»Das wäre übelst krass von dir, Alter«, sagte Mülltoni. All sein Misstrauen schien verflogen.

Meinen Freund im Schlepptau wanderte ich ziellos durch die finsteren Gänge des Gruftmarktes. Währenddessen versuchte ich mich an das alles entscheidende Wort zu erinnern. Es hatte irgendetwas mit Mathematik zu tun, doch hatte ich mit dieser Wissenschaft leider noch nie allzu viel anfangen können. Warum hatte der Lehrer auch ein so kompliziertes Wort auswählen müssen? Ich war mir ziemlich sicher, dass auch ein anderes, weitaus einfacheres denselben Zweck erfüllt hätte. Insgeheim kam ich mir jedoch ziemlich dumm vor.
Bereits zum dritten Mal kamen wir an demselben Regal mit Bertas bestem Blutfleckenentferner vorbei, doch das schien Mülltoni nicht zu stören. Wenn er es überhaupt bemerkt hatte. Trotzdem bog ich in einen Gang ein, dem wir bisher nicht gefolgt waren. Dass dieser ausgerechnet in die Friedhofsabteilung mündete, hätte ich als Wink des Schicksals interpretieren können. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, endgültig zu begraben, was von diesem Tag noch übrig war.
Ich war unsagbar müde. Wie gerne hätte ich mich einfach auf einen der wackeligen Klappstühle fallen lassen, die den Gang zu meiner Rechten versperrten. Allerdings hätte Mülltoni wohl kein Verständnis für eine solche Verzögerung gezeigt. Abwesend murmelte er vor sich hin, doch schien er – langsam, aber sicher – die Geduld zu verlieren. Mit seinem rechten Henkel umklammerte er eine hässliche Stoffpuppe, die er irgendwo aufgelesen hatte. Immer wieder schien er kurz davor, sie zu zerquetschen.
So durchschritt ich also das Tor zur Friedhofsabteilung, das sich unheilverkündend zwischen den Regalen fast bis zur staubigen Decke erhob. Auf den ersten Blick aus Marmor gefertigt, bestand es in Wirklichkeit aus billigem Plastik, das über und über mit Schimmel überzogen war. Dahinter reihten sich auf der rechten Seite Särge in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien auf, auf der linken dagegen Grabsteine mit allerlei fragwürdigen Inschriften. Auch hier wimmelte es nur so vor Sonderangeboten. So gab es etwa für jeden Standardsarg zwei Kindersärge gratis dazu.
»Randalf, mein Alter«, hörte ich Mülltoni sagen. Er war am Tor stehen geblieben. »Das hätte ich von dir echt nicht erwartet. Ich dachte, du wärst ein Freund des Meisters.«
»Das bin ich auch«, erwiderte ich langsam. »Hoch lebe der Meister.«
»Lüg mich nicht an, Alter!«, schrie Mülltoni.
Mit wutverzerrtem Gesicht warf er die Puppe nach mir. Instinktiv riss ich meine Plastikflasche hoch, um das Geschoss abzuwehren. Statt meiner traf die Stoffpuppe einen der umstehenden Grabsteine, der daraufhin mit einem lauten Knarren umkippte. »Hier könnten Sie ruhen« war darauf zu lesen.
»Traut nicht denen, die euch führen wollen in die Tiefen der Friedhofsabteilung bei Gruftmarkt, denn sie haben den Pfad des Meisters verlassen«, raunte Mülltoni mit monotoner Stimme. »So steht es geschrieben, denn so sprach der Meister und der Meister irrt nicht.« Unbeholfen griff er nach einer rostigen Schaufel, die neben dem Tor in einem Beet voll vertrockneter Kunstblumen steckte. »Diese Abteilung wird dein Grab sein, Alter.«
Mit einem unmenschlichen Schrei sprang er mir entgegen. Ehe ich eine Abwehrhaltung annehmen konnte, schlug er mir meine Flasche aus der Hand. So konnte ich nur ausweichen und zum wiederholten Male die Flucht antreten. Während Mülltoni die Schaufel wie eine Keule schwang, Särge und Grabsteine umstieß, bahnte ich mir eilig einen Weg zu einem der Seitengänge, in der Hoffnung, dort entkommen zu können.
Plötzlich stolperte ich über einen Gartenzwerg, der eine schwarze Kutte und eine Sense trug. Ich verlor das Gleichgewicht, strauchelte und landete hart in einem der Särge, die am Boden verstreut lagen. Noch während ich versuchte, mich aufzurappeln, schloss Mülltoni zu mir auf. Ein wahnsinniges Grinsen huschte über sein Gesicht, als er sich über mir aufbaute und die Schaufel zum Schlag erhob. Es gab kein Entkommen mehr. Ich saß in der Falle.
Schon sah ich mein Leben vor meinen Augen vorbeiziehen, da fiel mein Blick auf den Sarg neben mir. Eigentlich waren es mehrere Särge unterschiedlicher Größe, die ineinander verschachtelt waren. Der innerste war kaum größer als meine Handfläche. Dort sah ich zwei Duliöhkarten liegen. Es waren »Intensivinniges Immerimmunirisinfointervall« und »Schillerschöne Schurkenschwertschulschuhschachtelung«.
Wie von einer höheren Macht eingegeben, geisterte da mit einem Mal ein seltsames Wort in meinem Kopf herum. »Intervallschachtelung«, sprach ich es aus, ohne nachzudenken.
Mitten im Schlag hielt Mülltoni inne. »Was schwafelst du da, Alter?«, sagte er. Er blinzelte verwirrt. »Und was machst du überhaupt da drin? Probeliegen, oder was? Bist du dafür nicht ein bisschen zu jung?« Kopfschüttelnd ließ er die Schaufel sinken und streckte mir einen seiner Henkel entgegen. Er schien wieder er selbst zu sein.

Gemeinsam mit dem geläuterten Mülltoni machte ich mich wieder auf den Weg. Wohin, das wusste ich nicht. Zurück zur Esoterikabteilung vielleicht, wo ich die Verkäuferin zuletzt gesehen hatte, die mir noch eine Wegbeschreibung schuldig war. Das Wort »Intervallschachtelung« hatte ich mir auf einem digitalen Grabstein in Taschenformat notiert, den ich in der Nähe gefunden hatte. Nicht noch einmal würde ich mich an diesem Tag von Mülltoni durch die Gegend jagen lassen.
Beinahe hatte ich das Tor der Friedhofsabteilung erreicht, da fiel mein Blick auf einen grell leuchtenden Pfeil, der von der Decke baumelnd auf einen schmalen Gang zwischen zwei essbaren Urnen aus Käse zeigte. »Sonderangebot – Nur für kurze Zeit – nur hier erhältlich und sonst nirgendwo (ganz ehrlich): Lügenkresse« stand durch in blinkenden Buchstaben zu lesen.
Beinahe hätte ich laut gelacht. Es war zu schön, um wahr zu sein. An diesem Tag hatte ich zu viel erlebt, um diesem allzu offensichtlichen Wink des Schicksals noch ernsthaft Glauben schenken zu können. So viel Glück hatte ich nicht. Was auch immer dort am Ende dieses Ganges lag, war der Mühe nicht wert. Doch was hatte ich zu verlieren?

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